Sieben 12- bis 14-jährige Mädchen dürfen beim Brauch des Wiehnechts-Chindli mitwirken. Das in weisse Schleier gehüllte Wiehnechts-Chindli gibt dem Brauch den Namen und wird von sechs Sängerinnen in rosa Gewändern begleitet. Gemeinsam ziehen sie an Heiligabend und Weihnachten von Haus zu Haus, um ihr eingeübtes Hirtenlied vorzutragen. Nebst feierlicher Stimmung bringen sie selbstgemachtes Weihnachtsgebäck in alle Hallwiler Haushaltungen. Als einziger der Hallwiler Mittwinterbräuche drohte der Wiehnechts-Chindli-Brauch nie auszusterben.
Ausführende des Brauches sind sieben Mädchen im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren, die alle in Hallwil wohnen müssen. Die Hauptrolle als verschleiertes Wiehnechts-Chindli gilt als besondere Ehre und fällt dem ältesten Mädchen zu, falls es im Vorjahr bereits als Begleiterin mitgewirkt hat. Wer sich hinter den Schleiern verbirgt, wird geheim gehalten. Sechs jüngere Mädchen begleiten das Wiehnechts-Chindli. Die Begleiterinnen üben einige Wochen vor Weihnachten unter der Leitung einer Lehrperson ein Hirtenlied ein. S Wiehnechts-Chindli singt nicht mit, ihm kommt eine stumme Rolle zu. Die Mädchen müssen vorher auch die Chrömli (Weihnachts-Gebäck) selber backen, mit denen sie dann die Besuchten beschenken. Betreut werden die Mädchen von zwei Frauen der Brauchtumskommission, die dafür sorgen, dass alles nach den gewohnten Regeln abläuft. Die Frauen sind zudem für die Reinigung und Pflege der Gewänder und Requisiten zuständig. Die Tradition dieses feierlichen Brauchs musste nie wiedererweckt werden. Ohne Unterbruch war sie immer da.
Am Heiligabend zieht die Gruppe am späten Nachmittag vom Schulhaus los. Nach einer festgelegten Route wird allen Häusern im Dorf ein Besuch abgestattet. Die Mädchen tragen zwei Laternen, ein Glöcklein, eine Stimmflöte, einen Beutel für Bargaben und einen Korb mit Gebäck. Am 24. und 25. Dezember besuchen sie alle Haushaltungen im Dorf. Da die Route jedes Jahr wieder in der anderen Richtung abmarschiert wird, kommen die Besuchten jeweils in einem Jahr an Heiligabend, im anderen Jahr am Weihnachtstag in den Genuss, von diesem Brauch besucht zu werden.
Ein helles Glöcklein kündet die Gruppe an. Wenn die Tür geöffnet wird, tritt als erstes das Wiehnechts-Chindli ein. Es ist als einziges weiss gekleidet, mit Schleiern verhüllt und trägt eine Krone mit einem Stern auf dem Haupt. Zwei Begleiterinnen führen das Wiehnechts-Chindli in die Stube. Ihm folgen die anderen Begleiterinnen, die ebenfalls rosafarbene, lange Gewänder mit Kapuze tragen. Still wird’s bei den Besuchten. Das Licht ist gelöscht, am Weihnachtsbaum brennen die Kerzen. Während die Begleiterinnen, im Halbkreis aufgestellt, ein Hirtenlied vortragen, begrüsst das Wiehnechts-Chindli die Anwesenden stumm mit Händedruck und Verbeugung. Dann überreicht es jedem Anwesenden selbstgemachte Chrömli und verabschiedet sich wieder mit dem gleichen Ritual. Diese stummen Gesten verleihen dem Brauch einen mystischen Charakter. Beim Verlassen des Hauses erhalten die Mädchen als Dank eine Geldspende. Auf ihrem Rundgang durch den jeweiligen Dorfteil werden die Mädchen bei einem Zwischenhalt verköstigt, damit sie gestärkt die Route beenden können. Am Schluss des zweiten Abends lädt das Wiehnechts-Chindli seine Begleiterinnen zu einem Imbiss bei sich zu Hause ein, womit der Brauch seinen Ausklang findet. Die Mädchen spenden einen feststehenden Betrag an die Brauchtumskasse, den Rest dürfen sie für sich behalten.
Im Gegensatz zu anderen Hallwiler Bräuchen, die unter freiem Himmel stattfinden, handelt es sich beim Wiehnechts-Chindli um einen Brauch, der sich im verborgenen, familiären Rahmen abspielt. Es ist der einzige Brauch, der ausschliesslich von Mädchen ausgeführt werden darf; so will es die Überlieferung. Zum Wiehnechts-Chindli fühlen sich die Dorfbewohner besonders hingezogen: Nicht von ungefähr kehren an Weihnachten viele Heimweh-Hallwiler in ihre alte Heimat zurück.
Wiehnechts-Chindli: Mögliche Ursprünge
Ähnlich wie die Chlausen hat auch das Wiehnechts-Chindlidem Namen nach den Anschein eines christlichen Brauches, doch können weder der Stern auf der Krone noch das christliche Lied darüber hinwegtäuschen, dass der Ursprung in heidnischen Gebräuchen zu suchen ist. Es verblüfft schon die Tatsache, dass das Wiehnechts-Chindli nicht von einem Knaben dargestellt wird, das dem weihnächtlichen Jesuskind eher entspräche. Unter den Schleiern verbirgt sich ein Mädchen, obwohl es vom Betrachter nicht unbedingt als solches wahrgenommen wird. Durch die Verhüllung des Gesichts begegnet es uns als zeitloses Wesen ohne Gestalt. Möglicherweise geht das Wiehnechts-Chindli auf einen germanischen Brauch zur Mittwinterzeit zurück, welcher das Überwinden der kürzesten Tage des Jahres und die Wiedergeburt des Lichts nach der Sonnwende zelebrierte. Das helle, weisse Wesen könnte die germanische Göttinnen Frigg oder Freyja personifizieren. Als Perchta hat die Göttin Frigg den Weg in die Sagenwelt gefunden und tritt als mittwinterliche Figur in allen möglichen Formen auf – denkbar also auch eine Verbindung zum christianisierten Wiehnechts-Chindli.
Chronologie
1850 In Gränichen bringt das Weihnachtskind den Baum in die Stubender Familien.
1930 Erste Erwähnung des „Christkind“-Brauchs in der Hallwiler Dorfchronik. Schon damals erscheint das Wiehnechts-Chindli verschleiert, während die Begleiterinnen zivile Sonntagskleider tragen.
1949 Neue Gewänder in Rosa und Hellblau werden geschneidert. Um der wachsenden Einwohnerzahl Herr zu werden, reicht der Heiligabend für die Besuche bald nicht mehr aus.
1966 Die Mädchen dürfen auf ihrem Rundgang nicht mehr spontan bei den Besuchten verköstigt werden, um nicht in Zeitverzug zu geraten.
1972 Alle sechs Begleiterinnen erhalten rosa Gewänder. Lydia Müller und Esther Lerch, Trachtengruppe Hallwil, sind die Schneiderinnen.
1987 Die Kleider werden abermals ersetzt. Frauen der Trachtengruppe führen noch immer die Näharbeiten aus.